„Scheinanlage Brasilien“
Wer mit offenen Augen zwischen Lauffen am Neckar und Hausen an der Zaber unterwegs ist, kann zwischen manchen Feldern rätselhafte überwachsene Reste baulicher Strukturen erkennen. Dabei handelt es sich nicht etwa um Überbleibsel landwirtschaftlich genutzter Gebäude, sondern um die letzten sichtbaren Zeugnisse eines groß angelegten Geheimprojekts der Luftwaffe aus dem Zweiten Weltkrieg, der sogenannten ‚Scheinanlage Brasilien‘.
Weshalb diese Anlage ausgerechnet hier aufgebaut wurde, lag wohl nicht zuletzt am Verlauf des Neckars und der auffälligen Schleife, die der Fluss in unmittelbarer Nähe zum Stadtgebiet einschlägt. Auf der Suche nach einer Möglichkeit, die Bomberverbände der Royal Air Force von Stuttgart fernzuhalten, wurde das Luftgaukommando auf die Ähnlichkeit des Flussabschnitts in Stuttgart-Münster zu genau demjenigen bei Lauffen aufmerksam.
Die ‚Scheinanlage Brasilien‘ gehörte zu einer ganzen Reihe ähnlicher Projekte, die im Südwesten realisiert wurden, gemeinsam waren ihnen Decknamen südamerikanischer Staaten. Bei Stein am Kocher etwa, 20 Kilometer nördlich von Heilbronn, befand sich die Scheinanlage Peru samt Scheinflugplatz bei Möckmühl, im Umland von Karlsruhe die Scheinanlagen Venezuela, Columbia und Panama.
Ab dem Jahr 1940 begannen Pioniere der Luftwaffe, auf dem Großen Feld zwischen Lauffen, Nordheim und Hausen eine Nachbildung des Stuttgarter Bahnhofsareals sowie der umgebenden Straßenzüge zu errichten. Da es sich um militärisches Sperrgebiet handelte existieren keine gesicherten Aufnahmen der errichteten Gebäudeattrappen, allerdings einige Augenzeugenberichte. Der markante Bonatzbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs wurde demnach durch eine etwa 10 Meter hohe und bis zu 40 Meter lange Holzkonstruktion, außen mit Leinen verkleidet, nachgebaut. Davor verlegte man Gleise aus Holz und auf Stangen montierte Lampen zur Imitation von Signalleuchten. Unregelmäßige Lichtblitze entlang elektrischer Leitungen sollten den Eindruck fahrender Straßenbahnen erwecken. Rings um den Scheinbahnhof entstanden vermeintliche Industrieanlagen und auf der anderen Seite des Neckars wurde mit kleinen Betonhäuschen eine Nachbildung Bad Cannstatts angelegt. Dutzende Stellungen der Luftabwehr mitsamt Scheinwerfern, die über das gesamte Umland verstreut waren, sollten Angriffe abwehren.
Die Lauffener Bevölkerung litt in den nächsten 2 Jahren unter Flurschäden durch Bomben, zu Boden fallenden Blindgängern der Flak-Munition und ständigem Fliegeralarm. Vor Allem im Ortsteil ‚Dörfle‘ waren zahlreiche zerstörte Wohngebäude zu beklagen, die Einrichtung von Splitterschutzkellern wurde angeordnet. Mit der Zeit „gewöhnten“ sich Teile der Lauffener Bürger an diese widrigen Lebensumstände in ihrer Stadt. So berichtet ein Zeitzeuge etwa, dass der Nachbar der Familie sein Bett bei nächtlichem Fliegeralarm irgendwann erst gar nicht mehr verlassen habe, denn „Wo ich sterbe, ist gleich, egal ob im Keller oder im Bett.“
Ab Anfang Mai 1942 führten nicht zuletzt Fortschritte beim Radar der britischen Flugzeuge zur Enttarnung der Anlage. Am 5. Mai traf ein großer Luftangriff den echten Stuttgarter Hauptbahnhof, wobei das Gleisvorfeld in größerem Umfang zerstört wurde. Spätestens ab Oktober 1943 wurde die nunmehr strategisch unbedeutende Scheinanlage Brasilien bei Lauffen am Neckar schließlich abgebaut.
Literatur
Günther Keller: Die Scheinanlage „Stuttgarter Bahnhof“ 1940 –1943 im großen Feld zwischen Lauffen, Hausen und Nordheim. Ubstadt-Weiher/Heidelberg/Basel 2017.