Die Besetzung des Atomkraftwerks Neckarwestheim II
Atomkraftwerke (AKW) und Flüsse gehen eine einseitige Partnerschaft ein. Erstere sind auf letztere angewiesen, um zu funktionieren, denn Flüsse bieten die notwendige Kühlung für die Energieproduzenten. Für die Gewässer jedoch bedeutet der Nachbar ein Risiko.
Seit Mitte der 1970er-Jahre protestieren Bürger*innen in Deutschland gegen Atomkraftwerke. Auch das Kernkraftwerk Neckarwestheim II wurde 1988 Schauplatz einer Protestaktion, initiiert von Tübinger Studierenden. In der Gemeinde wurde bereits 1976 das AKW Neckarwestheim I in Betrieb genommen, 2011 wurde es außer Betrieb gesetzt. Seit Beginn der 1980er-Jahre stand der Bau des AKW Neckarwestheim II auf dem Plan. 1986 entschied der Gemeinrat Heilbronn, rechtliche Schritte gegen das zweite Kraftwerk vorzunehmen, nachdem sich eine Bürger*inneninitiative gegründet hatte. Ein Jahr später wurde die Entscheidung zurückgenommen.
Das Kraftwerk liegt unmittelbar am Neckar, der die Aufgabe hat, überschüssige Wärme abzuleiten. Bereits kurz nach Inbetriebnahme des GKN I (Gemeinschaftskernkraftwerk Neckar I) äußerten landwirtschaftliche Betriebe in der Umgebung Sorgen um ihre Erzeugnisse und forderten, dass mit dem Bau von GKN II gewartet werden solle, bis die Auswirkungen von GKN I auf die Umwelt abschätzbar sind. Für den Neckar bedeuten mehr Kraftwerke eine höhere Wärmebelastung, die eine Bedrohung für das Ökosystem des Flusses darstellen kann. Zudem bescheinigen mehrere Gutachten, das neueste erschien 2013, dass das AKW Neckarwestheim auf unsicherem Grund, teilweise löchriger Gips und Kalkschutt, erbaut worden sei. Mehrere Teile der Anlage lägen unterhalb des Neckarspiegels, weshalb immer wieder große Mengen Wasser abgepumpt werden müssten. Die Lage am Fluss und der Bau auf fragilem Boden gefährden also auch die Sicherheit des Kraftwerks – und damit die Sicherheit der Menschen am Neckar. Darum bezeichnet der Gutachter Dr. Hermann Behmel das GKN auch als „geologische Zeitbombe“.
Diese Bedrohung für Umwelt und Mensch nahmen die Studierenden aus Tübingen zum Anlass, 1988 eine Aktion gegen den Bau des GKN II zu initiieren. Am 19. März erhielt die Gruppe Zugang zum im Bau befindlichen GKN II, getarnt als Seminargruppe, die sich für eine Führung angemeldet hatte. Während der Führung gelang es einigen Studierenden, sich von der Gruppe abzusondern und im Reaktor zu verbleiben. Dort besetzten sie wohl eine Art Baugerüst. Simultan zur Besetzung des GKN II veröffentlichte die Gruppe eine Pressemitteilung. Nach rund vier Stunden wurden die Protestierenden vom SEK Heilbronn abtransportiert. Politischen Einfluss konnten Die Protestierenden nicht ausüben; das GKN II wurde fertig gebaut und produzierte von seiner Fertigstellung am 15. April 1989 bis seiner Außerbetriebnahme am 15. April 2023 genau 34 Jahre Atomstrom.
Zum Weiterlesen:
In der Höhle des Atom-Löwen: Dokumentation der Besetzung des Atomkraftwerks Neckarwestheim II vom 19.03.1988. Zsgest. Von Jürgen Hasler, Tübingen 1988.
Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar (Hg.): Neckarwestheim – Widerstand ohne Schlagzeilen, o.O. o.D.
Dr. Hermann Behmel: Atomkraftwerk Neckarwestheim. Geologische Zeitbombe, Stuttgart 2013.
Anmerkung: Der Text von Mia Paulus wurde redaktionell bearbeitet.