Die Rettung der Eberhardsbrücke
Tübingen, 18. April 1945. Wie die Geschichte es überliefert, sollen die Sprengsätze in der Nacht schon in der Eberhardsbrücke gesteckt haben, um mit der Sprengung den von Norden anrückenden Franzosen des Combat Command V den Weg auf die Alb zu erschweren. Es scheiden sich die Berichte darüber, wieso die Eberhardsbrücke doch überlebt hat. Die vielfach wiederholte Erzählung, der Wirt des Hotels Goldener Ochse habe das Sprengkommando der Wehrmacht mit einem schwäbischen Vesper im Hotel so lange abgelenkt, bis die Franzosen kamen, lässt sich genauso wenig verifizieren wie eine ähnliche im Schwäbischen Tagblatt 1965 abgedruckte, aus Berichten Tübinger Bürger zusammengesetzte Version, in der die einsichtigen Sprengkommando-Soldaten sich anstatt der Sprengung in das Lokal „zur Neckarbrücke“ zum Trinken zurückzogen. Das Tagblatt legt den Erfolg hier zu Füßen der Anwohner der Brücke an beiden Ufern des Neckars, deren Häuser von der Detonation zerstört worden wären. Sie redeten angeblich erfolgreich auf das Sprengkommando ein, um die Soldaten von der Sinnlosigkeit der Sprengung zu überzeugen. Der Krieg war auf deutscher Seite verloren, daran änderte auch die Situation Tübingens nichts mehr. Nach der Sprengung der Brücke wäre der Neckar lediglich wenige Tage später überquert worden, was das Risiko auf Plünderungen weiter erhöht hätte als sie dies beim Einmarsch später ohnehin schon taten.
Die älteste Berichterstattung wurde nur sechs Monate nach jener Nacht unter französischer Besatzung abgedruckt: In Auszügen aus einem Augenzeugenbericht heißt es, drei Unterstützer des diensthabenden Standortarztes Dr. Dobler hätten die übrigen Sprengkommandosoldaten mit vorgezogenen Pistolen entwaffnet, wurden von Dr. Doblers spontanem Auftauchen vor der Verhaftung gerettet und verhinderten so die folgenschwere Sprengung. Aufgrund von (illegalen, unautorisierten) Versprechungen im Vorfeld an die Franzosen, Tübingen würde sich kampflos ergeben, um die hunderten schwer Verletzten im Lazarettviertel nicht zu gefährden, hätte die Zerstörung der einzigen noch übrigen verkehrstüchtigen Brücke über den Neckar Wortbruch und damit die Vernichtung Tübingens als Ganzes bedeutet.
Wissenschaftlich gesehen haben all diese Geschichten ein Problem: Die Quellen widersprechen sich. Es besteht somit keine Möglichkeit mehr, eine Version der Ereignisse als die Wahrheit herauszustellen. Wenn dieser Anspruch aufgegeben werden muss, bleibt zu fragen: was lässt sich aus den Ergebnissen trotz Widersprüchen ziehen?
Die Gemeinsamkeit, die heraussticht, ist der Widerstand gegen die Sprengung. Es ist natürlich möglich, dass dieses Beharren auf dem Triumph des gesunden Menschenverstandes über die Versessenheit der Nationalsozialisten aus dem Kontext der Nachkriegszeit unter französischer Besatzung entstand, um eine Personengruppe oder Tübingen an sich besser dastehen zu lassen. Genauso ist es jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass etwas in jener Nacht passierte, was die Eberhardsbrücke trotz Sprengbefehl bestehen ließ. Mit der kampflosen Übergabe der Stadt an die Franzosen trotz eindrücklichem Verteidigungsbefehl der Parteispitze wurde auch ganz Tübingen vor der Zerstörung gerettet, was das Schicksal der Brücke untrennbar mit dem der Stadt verbindet. So sehr Tübingen im Dritten Reich mit dem Nationalsozialismus verbunden war, so bezeichnend ist es, dass die teils unrealistischen Erklärungen für das Bestehen der heute als Neckarbrücke bekannten Hauptschlagader der Stadt sich alle um aktiven, lokalen Widerstand gegen die Wehrmacht in einer Situation drehen, in der dieser Widerstand mit dem Tod bestraft wurde. Die verschiedenen Erzählungen tragen am Ende weiter zur ohnehin keineswegs schwarz-weißen Realität rund um die Tübinger Besatzung bei, gleich des Wahrheitsgehalts der Details.
Quellen
Wie unsere Neckarbrücke vor der Zerstörung bewahrt wurde – Auszüge aus einem Augenzeugenbericht. Schwäbisches Tagblatt, 1. Jg., Nr. 5, 5. Oktober 1945, S. 3.
Der Schnaps hat sich gelohnt. Schwäbisches Tagblatt, Jg. 21, Nr. 89, 17. April 1965, S. 14.
Literatur
Moersch, Karl; Weber, Reinhold (hrsg.): Die Zeit nach dem Krieg: Städte im Wiederaufbau. Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs, Bd. 37, Stuttgart 2008, S. 369-398.
Schönhagen, Benigna: Tübingen als Landeshauptstadt 1945-1952 – So viel Anfang war nie, in:
Sannwald, Wolfgang (Hsg.): Einmarsch – Umsturz – Befreiung. Das Kriegsende im Landkreis Tübingen Frühjahr 1945, Tübingen 1995.
Schwelling, Michael: Erinnerungen an Tübingen wie es einmal war, Kassel 2001.
Werner, Hermann: Tübingen 1945, Tübingen 1986.