Nürtingens neuer Mittelpunkt: der Neckar
In einer Zeit, in der man noch „Fräulein“ sagte und Badebekleidung vor allem sittsam sein musste, war das Baden im Neckar bei Nürtingen noch erlaubt. Obwohl ein öffentlich zugänglicher Ort, so war es wohl bis nach Ende des 1. Weltkriegs allein den Männern vorbehalten, im Flussgewässer zu baden. Jedoch: Die Zeiten änderten sich – Frauen durften endlich wählen und nur ein Jahr später, nämlich 1919, war es ihnen gestattet, im Neckar zu baden. Für sie wurde zu diesem Zwecke von der Stadt eigens ein besonderer Badeplatz eingerichtet, nämlich am linken Ufer des Flusses.
Die Trennung der Geschlechter schien die Stadt und die Badenden viele Jahre umzutreiben. Man ging mit der Zeit, man reagierte auf die Bedürfnisse. So wurde Mitte der 1920er Jahre beschlossen: Jungen und Männer dürfen rechtsufrig am Wörth ins kühle Nass steigen, Frauen und „Jungfrauen“ linksufrig oberhalb der Firma Melchior. Schulpflichtige Mädchen dagegen sollten unterhalb des Wehrs auf dem Wasen Erfrischung finden.
Was das wohl in der Praxis bedeutete? Der Vater und der Sohn auf der einen Seite des Neckars, die Mutter an der anderen. Ja und die Tochter? Traf die sich mit ihren Freundinnen flussabwärts?
So ganz glücklich wurden die Badegäste mit dieser geografisch getrennten Lösung wohl nicht oder mang ging mit der Zeit. Nur wenige Jahre später, 1931, eröffnete in Nürtingen das Familienbad – selbstverständlich mit Bademeister – oberhalb des bisherigen Männerbads. Mit großem Erfolg. Die Nutzer waren sehr glücklich darüber. Dazu ein Leserbrief eines eifrigen Badegastes in der Nürtinger Zeitung vom 5. Oktober 1932:
„Da war es (…) vor allem die neugeschaffene Einrichtung des Familienbades, die überaus starken Zuspruch fand. Und hierfür stand der prächtige Ufersaum des Neckars bis hinauf zum Neckarhäuser Wehr zur Verfügung. Da konnte sich jeder Badegast seine körperliche und geistige Erholung suchen, wie er wollte. Man sah solche, die in heiterem Spiel mit ihren Gefährten sich vergnügten, in kleinerer oder größerer Gesellschaft. Andere, die abseits von allem Treiben im Schatten eines Weidenbaumes stillem Nachdenken oder ungestörter Lektüre sich hingaben, wieder andere, die Nachbarschaft und Freizügigkeit zwischen Sport- und Badeplätzen benützend, im Wechsel zwischen turnerischer Betätigung und Baden ihre Kräfte stählten. Alle waren eingehüllt (…) Nicht von einem Massenbetrieb (…), dem Lärm und Betrieb sonstiger städtischer Freibäder. (…)“
Die Idee mit den städtischen Freibädern – im Leserbrief noch recht abwertend erwähnt – fand in der Bevölkerung jedoch mehr und mehr Anklang. Schon in den 1930er Jahren wurde über den Bau eines Freibades in Nürtingen gesprochen, wie es andere, kleinere Orte schon realisiert hatten. Doch die deutsche Geschichte kam dazwischen: Kriegsbedingt ruhten die Pläne für ein Freibad, der Badespaß im Neckar ging weiter bis in die 1960er Jahre. 1951 wurde für den Neckar ein Bademeister bestellt – zum letzten Mal. 1953 schließlich wurde das langersehnte Freibad gebaut und das Baden im Neckar verboten.
Warum das Baden im Nürtinger Teil des Neckars letztlich vollständig aufgegeben wurde, hatte mehrere Gründe:
- Das Freibad war mit seinen familienfreundlichen Angeboten attraktiver.
- Die Wasserqualität des Neckars verschlechterte sich.
- Immer wieder machten tödliche Badeunfälle Schlagzeilen.
So wird seit über fünfzig Jahren nicht mehr gebadet im Neckar in Nürtingen. An der Steinachmündung kühlen sich Nürtingerinnen und Nürtinger die Unterschenkel – mehr aber nicht. Erst im Sommer 2021 mussten zwei Jungen von Passanten gerettet werden, die von der Strömung mitgerissen und gegen das Wehr vor der Stadtbrücke gedrückt wurden.
Eine Wiederannäherung an den Neckar schwimmender Weise ist also nicht möglich. Die Stadt suchte viele Jahre nach Alternativen: Eine Brücke für eine bessere Fußgänger- und Radfahrerverbindung über die bei Entenfamilien beliebte Steinachmündung hat der Gemeinderat aus Naturschutzgründen abgelehnt. Auch die Pläne für ein gastronomisch nutzbares Gebäude, das über den Neckar ragen sollte, wurden in die Schublade verbannt. Einzig die planerische Sperrung der Alleenstraße zum Zwecke der Uferannäherung wurde 2021 umgesetzt: Nürtingen eröffnete versuchsweise einen Stadtbalkon. Eine Idee, für die Oberbürgermeister Dr. Johannes Fridrich schon im Wahlkampf warb: Auf der abgesperrten Straße trifft Gastronomie auf Kultur und geselliges Beisammensein – all das vor wunderbarer Kulisse und dem rauschenden Wehr im Hintergrund. Obwohl der Sommer kühl und regnerisch war, trafen sich je nach Tageszeit unterschiedliche Besuchergruppen: Arbeitende zur Mittagspause, junge Familien am Nachmittag zum Eis essen, Enten füttern oder im Sandkasten spielen, Senioren auf ein Glas Wein zum Sonnenuntergang und Studierende auf einen Cocktail bei Abendbeleuchtung. 77 Prozent der Stadtbalkon-Besuchenden waren sich nach einer Umfrage der Stadt Nürtingen einig: Der Stadtbalkon muss wiederholt werden. Der Gemeinderat stimmte dem Antrag zu – in den Folgejahren wird der Stadtbalkon von Juni bis September ein fester Bestandteil des Nürtinger Sommers. Eine Planung für eine ganzjährige Sperrung soll ausgearbeitet werden. An Ideen für eine begrünte ehemalige Verkehrsstraße mangelt es der Stadt und den Einwohnern nicht.
Gebadet wird im Nürtinger Teil des Neckars also nicht mehr. Der Ruderclub Nürtingen, gegründet 1921, rückt den Neckar mehrmals im Jahr in den Fokus: Wenn sich Sportlerinnen und Sportler aus nah und fern zur Regatta treffen, säumen Zuschauer das Ufer oder schauen von der Wörthbrücke aus dem Rennen zu. Wer zu Gast ist in Nürtingen, kann Fluss nah parken oder über den überregionalen Neckartalradweg am Ufer entlangfahren. Links und rechts der Stadtbrücke laden kulinarische Angebote zum Verweilen ein – alle mit Blick auf Nürtingens neue Mitte: den Neckar.